Samstag, 26. November 2011

Burnout

Der kleine Mann mit dem langen, grauen Vollbart stand am Büffet und schaute sich suchend um. Schließlich entdeckte er den Gesuchten und stapfte mit energischen Schritten zum Pool. Dort blieb er vor einem Liegestuhl stehen und wischte sich den Schweiß mit seinem langen Ärmel seines braunen Umhangs ab. Dann atmete er tief durch und räusperte sich. Doch der korpulente Mann mit der viel zu engen schwarzen Badehose schnarchte nur ein paarmal laut, drehte seinen Kopf zur anderen Seite und schlief ruhig weiter.
„Hallo, Weihnachtsmann, der Chef schickt mich", flüsterte der Kleine durchdringend. Doch der Dicke reagierte nicht.
Nervös wechselte der Kleine von einem Bein zum anderen. Dann fasste er sich ein Herz und stupste den Dicken an. Erst berührte er ihn kaum, doch beim fünften Versuch wurde er gröber.
Erschrocken fuhr der alte Herr auf. „Was zum Donnerwetter denkt ihr euch eigentlich! Ich bin eine wichtige Persönlichkeit und brauche meinen Urlaub, um mich zu erholen."
Der Kleine wich erschrocken ein paar Schritte zurück. Um ein Haar wäre er in den Pool gefallen. Im letzten Moment blieb er stehen und balancierte sich aus.
„Ich kann doch nichts dafür", jammerte er. „Der Chef hat mir befohlen, euch zurückzuholen. Es ist schon Ende November. In den Städten stehen inzwischen meine Kollegen und geben sich als Weihnachtsmänner aus. Die Produktion läuft auf Hochtouren, die Lager sind voll und die Wichtelfrauen lesen täglich die Post und packen nach den Bestellungen die Pakete zusammen."
„Ein alter Mann braucht mehr Erholung als ein junger."
„Aber wir sind doch alle schon viel zu alt. Leider gibt es in unserer Branche keinen Nachwuchs. Außerdem würde der Chef uns nie in den vorgezogenen Ruhestand schicken."
Der korpulente Mann richtete sich auf. Seine nicht bedeckten Körperteile waren knallrot.
Der Wichtel kicherte. „So braucht ihr keinen roten Umhang tragen. Sehr praktisch bei diesen Temperaturen."
„Wie war noch einmal dein Name?", fragte der Dicke und zog seine buschigen Augenbrauen hoch.
Doch der Kleine eilte schon leichtfüßig weg, am Ende des Pools drehte er sich noch einmal um. „Meinen Auftrag habe ich ausgerichtet. Übrigens, eure Rentiere haben beschlossen zu streiken. Sie wollen besseres Futter und mehr Ruhetage in der Hauptsaison."
Seufzend stand der Alte auf, zog sich seine Schlappen an und ging bis zur Leiter, dort stieg er Sprosse für Sprosse langsam ins Wasser. Nachdem er mehrere Runden gedreht hatte, ging er in seinen Pavillon und zog sich an. Mit karierter Bermudashorts und einem bunten Safarihemd, das über seinem üppigen Bauch spannte, stellte er sich am Büffet an. Erst als er das fünfte Mal nachgenommen und eine Flasche Burgunder geleert hatte, stand er auf und folgte dem Wichtel. Vor dem Ferienpark stand ein modischer Jeep. Hinter dem Steuer saß der Kleine und schlief schnarchend.
„Rutsch zur Seite", sagte der Dicke herrisch.
Der Kleine rieb sich die Augen. „Na endlich, alleine hätte ich mich nicht zurückgetraut."
„Ich werde auch in Streik treten", murmelte der Weihnachtsmann. „In meinem Alter sollte man in Altersteilzeit gehen."

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Weihnachtsmann im Weihnachtsstress
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Freitag, 18. November 2011

Deutsche Sitten

„Siehst du, Stina, wir sind fast pünktlich“, meinte Maren und öffnete die hintere Wagentür, damit ihre Tochter aussteigen konnte.
Wie üblich vergaß Stina ihren Rucksack und Maren ergriff ihn automatisch.
Über den Kindergartenparkplatz kam ihnen eine kleine, untersetzte Frau mit einem Kopftuch entgegen. Sie nickte Stina lächelnd zu und ging weiter.
Maren blickte ihr kopfschüttelnd hinterher. „Unmöglich, dass die immer noch wie in Anatolien herumlaufen müssen. Wer hier lebt, sollte sich doch unseren Bräuchen anpassen“, schimpfte Maren laut.
„Das ist Tubas Mama“, klärte Stina sie auf.
„Tuba? Wie die Trompete?“, fragte Maren überrascht und feixte.
„Was?“ Stina verstand sie nicht.
„Eine Tuba ist eine Art Trompete“, erklärte Maren und schob Stina weiter.
„Tuba, Trompete, Trara, Trara“, schrie Stina und stürmte los.
Die Tür zu ihrem Gruppenraum stand offen. Stina blieb in der Tür stehen, der Raum war leer. Alle spielten schon im Garten.
„Oh, wir sind zu spät“, jammerte Stina und verzog ihr Gesicht.
„Hexen kann ich nicht. Sei froh, dass ich mitgekommen bin. Ich habe extra mit Sabine die Schicht getauscht, damit ich auf eurem Fest helfen kann“, fauchte Maren.
Stina hörte schon nicht mehr zu, sondern stürzte zu den anderen. Maren begab sich zu Frau Voß, der Erzieherin, und Ulrike, einer anderen Mutter, die einen Suppentopf auf einen Tisch im Freien stellten.
„Tuba, Trompete, Tuba, Trara, Trara“, schrie Stina lautstark.
„Stina, lass das. Du würdest es doch sicherlich nicht gut finden, wenn Alexander sich etwas zu deinem Namen einfallen lässt und dich damit hänselt“, ermahnte Frau Voß sie.
„Stina meinte es nicht böse, sie findet nur den Namen so komisch“, verteidigte Maren ihre Tochter.
„Vielleicht finden Tubas Eltern unsere Namen auch komisch?“, gab Frau Voß zu bedenken.
Maren schwieg lieber, schließlich wollte sie nicht als ausländerfeindlich gelten.
Vorsichtig füllte sie Suppe in die Teller und stellte sie auf einen der kleinen Tische, die zwischen den Bäumen standen. Sofort stürzten sich die Kinder gierig auf das Essen, als ob sie nicht gerade eben daheim gegessen hätten. Nur Tuba rührte ihre Suppe nicht an.
„Greif zu, zier‘ dich doch nicht so. Das ist eine gesunde Suppe“, munterte Maren sie auf. Doch Tuba reagierte nicht.
„Kannst du nicht sprechen? Verstehst du auch kein Deutsch?“, fragte Maren.
„Tuba isst keine Würstchen“, erklärte Max, der neben Tuba saß.
„Diese leckeren Würstchen? Tuba, die schmecken ganz toll“, versuchte Maren sie zu überreden, doch Tuba blieb still und regungslos.
„Wir müssen den Aberglauben dieser Menschen doch nicht auch noch verstärken. Die müssen sich doch schließlich an uns anpassen“, meinte Maren zu Ulrike.
„Für Tuba und Rolf haben wir eine Extrasuppe. Rolf hat eine Allergie“, rief Frau Voß ihnen zu, als sie Tuba so unschlüssig vor dem Teller sitzen sah. Sie kam hinzu und stellte Tuba einen neuen Teller hin. „Komm, Tuba, da ist kein Fleisch drinnen, nur Gemüse.“ Dann brachte sie auch Rolf seine Extraportion.
„Sie hätten hier doch Gelegenheit, ihr diese dummen Sitten auszutreiben“, wies Maren Frau Voß hin und füllte einige Teller nach.
„Wieso? Damit die Eltern sie abmelden? Und sie keine deutschen Freunde mehr hat und Deutsch erst in der Schule lernt? Wir kommen doch auch so zurecht“, meinte Frau Voß gelassen und füllte Tubas Teller wieder auf.
„Danke“, sagte Tuba und balancierte ihren Teller vorsichtig zu ihrem Platz.
„Mich stört es nicht, wenn sie keine Würstchen isst“, fuhr Frau Voß fort. Dann lachte sie laut auf und blickte Maren spöttisch an.
„Meine chinesische Freundin amüsiert sich immer, wenn ich keine Heuschrecken oder andere Spezialitäten esse. Sie meint, ich solle keine Vorurteile gegenüber einer uralten Kultur hegen.“
Maren schüttelte sich und schaute Frau Voß entsetzt an.

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Freitag, 11. November 2011

Sample Sunday - Aufmerksame Nachbarn

„Volker, wach auf“, ungeduldig rüttelte Inka ihren Mann.
Schlaftrunken wehrte er ab. Aber Inka ließ nicht nach.
„Was ist denn?“, langsam kam Volker zu sich. „Hör doch, da ist was“, wisperte Inka.
Volker lauschte. Tatsächlich. Er hörte halblaute Stimmen.
„Vorhin splitterte etwas“, flüsterte Inka.
Volker stand auf, ging zum Fenster und spähte durch die Gardine. „Im Radiogeschäft sind Einbrecher, das ist Licht von einer Taschenlampe“, sagte er mit gedämpfter Stimme.
„Geh vom Fenster weg. Hoffentlich haben sie dich nicht gesehen“, sorgte sich Inka.
Volker duckte sich sofort. Vorsichtig lugte er über das Fensterbrett.
„Sollen wir die Polizei rufen?“, fragte Inka.
„Damit wir nicht mehr auf die Straße können? Die verpassen uns doch eine Abreibung“, warnte Volker.
„Aber die Polizei sagt denen doch nicht, wer angerufen hat“, widersprach Inka und wickelte sich fester in ihre Decke.
„Das bekommen die schon heraus. Spätestens, wenn wir vor Gericht als Zeugen aussagen müssen.“ Volker klang zynisch.
„Und wenn wir anonym ...?“
„Dann kommt die Polizei gar nicht erst.“
„Aber wir können doch nicht tatenlos zusehen“, meinte Inka. Krampfhaft suchte sie nach einer Lösung.
„Sollen doch die Nachbarn anrufen“, schob Volker die Verantwortung von sich. Auf allen Vieren kroch er zurück ins Bett. Ängstlich drängte sich Inka an ihn. Zitternd lag sie da, bis sie schließlich ein Auto wegfahren hörte.
Jetzt traute sich Volker wieder an das Fenster. Doch diesmal lag die Straße still da. Beruhigt legte er sich ins Bett. Endlich konnten sie weiterschlafen.

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Angsthasen, Hrsg. Cornelia Eichner, Ine's Jaccobie, Geest-Verlag 2001.