Sonntag, 24. Juni 2012

„Ich darf mich dreckig machen“



„Lass uns draußen spielen“, ruft Sarah. Sie lässt die Legosteine fallen und läuft zur Haustür.
„Aber es regnet.“ Tobi sucht einen kleinen Stein. Als er ihn findet, steckt er ihn in das Auto, das er gerade baut. Er schaut gar nicht auf.
„Stimmt nicht, es ist trocken.“ Zum Beweis öffnet Sarah die Tür und läuft in Hausschuhen hinaus.
Jetzt steht auch Tobi auf, geht zur Tür und schaut ihr hinterher.
„Siehst du, es regnet gar nicht“, ruft Sarah und hält die Hände hoch.
„Aber alles ist nass.“ Tobi zieht sich zurück. Er friert. „Komm rein, es wird kalt.“
Sarah hüpft die Treppe hoch und hopst durch den Flur. Sie hinterlässt eine feuchte Spur auf dem Steinfußboden. „Lass uns hinausgehen. Das ist lustig. Wir können Schiffe schwimmen lassen.“ Sarah kramt in ihrer Spielzeugkiste und sucht ein paar Plastikschiffe heraus.
„Aber es ist alles schmutzig. Nein, wir spielen mit Lego.“ Tobi schließt die Haustür und setzt sich wieder an sein Auto.
„Das ist langweilig. Seit Tagen spielen wir Lego“, lehnt Sarah ab.
„Oder wir malen.“ Tobi schaut sich suchend um. Im Regal sieht er die Wachsmalkreiden und holt sie.
„Wir malen doch im Kindergarten.“ Sarah stellt die Schiffe in den Flur, zieht ihre Regenjacke und Regenhose an und schlüpft in ihre Gummistiefel. „Ich gehe raus.“ Sie öffnet die Tür und springt hinaus.
„Du sollst aber mit mir spielen“, schreit Tobi hinterher.
„Komm endlich.“
Zögernd zieht sich Tobi seine Jacke und seine Halbschuhe an. Dann folgt er Sarah. Sarah steht auf der Straße und tippt mit einem Fuß in eine Pfütze. Es entstehen Ringe, die immer größer werden. Dann springt sie hinein. Das Wasser spritzt nach allen Seiten. Das sieht lustig aus. Sarah lacht laut.
Sarah hat Tobi vollgespritzt. Seine Jacke ist ganz nass.
„Jetzt ist die Jacke dreckig.“ Tobi sieht ängstlich aus.
„Darfst du dich nicht dreckig machen?“, fragt Sarah und staunt.
„Mama hast damit so viel Arbeit.“ Tobi versucht die Spritzer wegzuwischen.
„Ich habe meine Spielkleidung an, die trage ich immer, wenn ich draußen spiele“, erklärt Sarah und rennt zu dem kleinen Feldweg hinter dem Haus.
Tobi zögert, dann folgt er ihr langsam.
Auf dem Feldweg fließt das Wasser den Hang hinunter. Ein richtiger kleiner Bach ist es. Sarah sammelt Steine und staut das Wasser.
„Mach mit, dort sind Steine, bring welche, schnell“, fordert sie Tobi auf.
Tobi gehorcht. Mit spitzen Fingern sammelt er einen Stein auf und trägt ihn vorsichtig zu Sarah.
„Schneller, das Wasser läuft weg“, drängelt Sarah.
Tobi läuft zurück und holt weitere Steine. Sie bauen eine große Staumauer. In der Pfütze sollen die Schiffe schwimmen. Dafür muss die Mauer noch höher werden.
Nach einer Weile schaut Tobi auf seine Jacke und erschrickt. „Ich bin so dreckig. Ich gehe wieder rein.“ Er sieht ganz unglücklich aus.
„Wenn du sowieso schon dreckig bist, kannst du auch weiterspielen. Mama macht die Jacke nachher sauber.“ Sarah dichtet den Damm mit Matsch ab.
„Wirklich?“, fragt Tobi.
„Natürlich.“
Jetzt spielt Tobi mit. Begeistert stauen sie das Wasser, bis ein See entsteht. Endlich können die Schiffe darin schwimmen. Aber immer wieder müssen sie den Damm ausbessern. Dabei vergessen sie die Zeit. .
„Tobi, komm, wir müssen nach Hause“, ruft Tobis Mama. Sie steht unten auf der Straße.
Erschrocken schaut Tobi auf.
„Wie siehst du denn aus? Musst du dich so dreckig machen?“, fragt Tobis Mama. Sie sieht ganz verärgert aus.
Tobi versucht seine Jacke abzuwischen. Dadurch werden die Flecken größer.
Seine Mama kommt heran und hält seine Hände fest. Jetzt sieht Tobi es auch. Seine Hände sind ganz schmutzig.
„Warum darf sich Tobi nicht dreckig machen? Hat er keine Spielkleidung? Soll ich ihm welche leihen?“, fragt Sarah. Sie stellt sich vor Tobis Mama und schaut sie mit großen Augen an.
„Wenn es regnet, könnt ihr doch drinnen spielen“, sagt Tobis Mama.
„Es regnet gar nicht.“ Sarah hält ihre Hand auf. Sie spürt keinen einzigen Tropfen.
„Ihr müsst nicht im Matsch spielen.“ Tobis Mama schaut bekümmert auf Tobi und Sarah.
„Aber es macht soviel Spaß“, ruft Sarah.
Tobis Mama schaut Tobi an. Tobi nickt mit dem Kopf.
„Mama kann die Jacke saubermachen“, schlägt Sarah vor.
„Das mache ich schon“, wehrt Tobis Mama ab.
„Es war ganz toll. Darf ich morgen wieder mit Sarah spielen? Bitte!“, bettelt Tobi.
Seine Mama seufzt. „Gut, dann müssen wir dir wohl auch Spielkleidung anschaffen.“
„Juhu“, jubeln Sarah und Tobi. Sie fassen sich an den Händen und hüpfen vor Freude herum.


© Annette Paul

Sonntag, 3. Juni 2012

Papas Tochter



Sie schloss die Autotür auf, warf die Schlüssel auf den Sitz, verriegelte die Tür von innen und schlug sie zu. Einen Augenblick blieb sie stehen und schaute auf den Mercedes. Sie würde sich kein eigenes Auto leisten können, aber wenn sie endlich erwachsen werden wollte, musste sie auf Luxus verzichten.
Sie betrachtete die große Beule im Kotflügel. Papa würde toben. Zum Glück war dem großen Findling, den sie übersehen hatte, nichts geschehen. Sie verzog das Gesicht. Zuerst hatte sie es Papa gestehen wollen. Er hätte herumgeschrien, sich dann aber schnell beruhigt, denn Caprice wusste genau, wie sie ihren Vater um den Finger wickeln konnte. Doch das wollte sie nicht mehr. Sie wollte nicht länger sein kleines Mädchen sein, in seiner Villa wohnen, Jura studieren und später in seiner Kanzlei arbeiten.
Die Delle hatte ihren Entschluss reifen lassen. Sie würde endlich das tun, was sie sich immer gewünscht hatte. Sie würde eine Ausbildung bei einem Fotografen machen. Nicht hier, sondern in der Großstadt. Hoffentlich nahm Sina sie für eine Weile auf. Sonst musste sie bei der Bahnhofsmission unterkommen. Sie verzog ihr Gesicht. Hatten die überhaupt Betten? Egal. Notfalls musste sie auf einer Parkbank schlafen. Sie zog ihr Portemonnaie. Ja, für die Fahrkarte reichte es. Noch heute würde sie sich einen Job suchen. Vielleicht konnte sie kellnern.
Sie wollte nicht länger Papas Tochter sein. Sie wollte ihr Leben selbst in die Hand nehmen. Endlich leben. Sie hatte nur dies eine Leben.


© Annette Paul