Sonntag, 12. August 2012

Unser Apfelbaum




Zur Geburt meiner Mutter pflanzte ihr Vater hinter dem alten Fachwerkhaus einen Apfelbaum. Jahre darauf versorgte er in der schlechten Nachkriegszeit die Familie mit seinen Früchten, die nicht nur selbst verzehrt wurden, sondern auch begehrte Tauschobjekte waren.
Als ich geboren wurde, spendete er für meinen Kinderwagen Schatten. Später stand unsere Sandkiste dort, damit wir keinen Sonnenbrand bekamen, und so spielten wir ständig in seiner Nähe. Im Sommer sammelten wir die früh abgeworfenen Äpfel, zerrieben und mischten sie mit dem Sand zu Apfelkuchen. Bald darauf kletterten mein Bruder und ich in dem Baum herum. Er hatte seine ersten Astgabeln in einer Höhe, die wir mit unseren fünf oder sechs Jahren erreichen konnten. Eines Tages befestigte Vater an ihm eine Schaukel, bald der beliebte Treffpunkt einer Kinderschar.
  Das Baumhaus in der Krone bauten wir schon selbst. Der große Ast, der dabei abbrach, riss eine tiefe Wunde in den Baum, die noch Jahrzehnte später zu sehen war. In den folgenden Sommern trug er kaum noch Früchte, deshalb wollte Vater ihn schon absägen. Zum Glück hinderte meine Mutter ihn daran. Wir Kinder zitterten um ihn, bis es endlich wieder seine rotbäckigen Äpfel auf den bunten Tellern zu Weihnachten gab.
Als ich mit der Schule fertig war, folgten mehrere Regenjahre hintereinander und der Baum erkrankte. Wieder wollte ihn Vater absägen, aber Mutter hing an ihm, weil er eine letzte Erinnerung an meinen Großvater war.
Mein Bruder machte sich ihr zuliebe die Mühe und schnitt die kranken Teile heraus und verpflasterte die Wunden. Mit Hilfe von Pflanzenschutzmitteln und Dünger erholte er sich. So dass auch meine Kinder seine Äpfel essen konnten.
In manchen Jahren trug er reichlich und wir versorgten nicht nur die Verwandtschaft, sondern auch noch die Nachbarn. Als meine Eltern zu alt für das Haus und den Garten wurden, zogen wir zu ihnen. Natürlich mussten wir umbauen und modernisieren. Dazu kamen der große Garten und die Pflege der Eltern. Zu allem Überfluss bestand Mutter darauf, alles Obst und Gemüse zu verwenden. Wie vor fünfzig Jahren kochten wir ein. Die Kinder lachten mich aus, weil ich ihr den Wunsch erfüllte. Trotzdem halfen sie bei der Ernte und holten sich einen Teil für den eigenen Bedarf ab.
Wenn ich jetzt auf den Friedhof gehe, nehme ich im Frühjahr blühende Zweige als Grabschmuck mit. Und meine Enkelkinder schlafen wieder im Schatten des Baums.


© Annette Paul