Sonntag, 8. September 2013

Peinliche Mutter



Sarinas Augen irrten noch immer über die schwarzen Zeichen, als die Kellnerin kam. „Was wünschen Sie?“
„Ich muss mich noch entscheiden.“ Sie lauschte den Bestellungen der anderen. Alle verlangten Schnitzel, nicht gerade ihr Lieblingsessen. Sie legte die Speisekarte zurück auf den Tisch. Die Kellnerin schaute sie an und hielt Block und Stift schreibbereit.
„Da schließe ich mich an und eine Cola bitte.“
„Ich denke, du magst kein Schnitzel?“, fragte Margot verwundert.
„Ab und zu probiere ich es wieder.“
Das Grillhähnchen am Nachbartisch versuchte sie tapfer zu ignorieren, während sie lustlos auf dem Schnitzel herumkaute.
Auf dem Rückweg vom Treffen mit den Kollegen verlief sie sich im U-Bahn-Tunnel. Sie trat vor dem Kiosk auf eine vorbeieilende Frau zu. „Wo fährt die Bahn nach Stade?“
„Das steht doch da!“, antwortete die Frau unfreundlich, wies mit der Hand auf ein großes Schild und war schon wieder fort. Sarina biss die Zähne zusammen und irrte weiter durch die Gänge. Eine alte Frau half ihr schließlich.
„Sie müssen bis zum Kiosk zurück und dann nach rechts.“
Jetzt fand sie es sofort. Natürlich war die Bahn weg und die nächste kam erst vierzig Minuten später. Maja schlief längst, als sie viel zu spät nach Hause kam.
Am nächsten Abend wartete ihre Tochter schon auf sie. „Mama, ich brauche Material für die Schule.“
„Haben wir doch besorgt.“
„Nein, die Sachen für den Kunstunterricht fehlen. Hier, schau mal.“ Sie wies mit dem Zeigefinger auf den Zettel.
„Ich habe jetzt keine Zeit, ich muss das Essen vorbereiten. Erzähl es mir lieber.“ Sie schob Maja weg, stellte den Wassertopf auf den Herd, holte Salz und Gewürze und schälte Zwiebeln.
Maja hielt ihr immer noch den Zettel hin.
„Du musst den Brief unterschreiben.“
„Welchen Brief?“
„Den hier, den von Frau Lange.“
„Hast du was ausgefressen?“ Sarina drehte sich um und schaute Maja streng an.
„Die Kleine senkte den Kopf. Tränen schossen in ihre Augen.
Sarina stellte den Herd ab, setzte sich auf den Küchenstuhl und zog Maja zu sich heran. „Wird schon nicht so schlimm sein.“
„Weil du nicht zu dem Gespräch gegangen bist.“
„Welches Gespräch?“
„Na, der Zetteln, den ich dir letzte Woche gegeben habe.“
„Welcher Zettel?“
Maja zeigte auf den Zettel, den sie an den Kühlschrank gepinnt hatte.
Sarina schoss das Blut in den Kopf.
„Tut mir leid“, murmelte sie mit belegter Stimme.
Sie schob Maja hinunter und fuhr mit dem Kochen fort.
Beim Essen kam Maja auf den Brief zurück. „Du musst ihn lesen.“
„Nachher.“
Maja schwieg bedrückt. Nach dem Abwasch wagte sie noch einen Vorstoß. „Mama, der Brief.“
„Ja, ja.“ Sarina schickte sie zum Zähneputzen und ins Bett.
Sie setzte sich vor den Fernseher. Um Frau Lange anzurufen, war es zu spät. Am besten telefonierte sie morgen mit ihr.
Als die Tagesthemen liefen, tauchte Maja wieder auf. „Du sollst doch schlafen.“
„Der Brief.“
Sarina zögerte, dann nahm sie den Umschlag und öffnete ihn. Eine Weile starrte sie auf die Zeichen, bis Maja ihr schließlich das Blatt aus der Hand nahm und stockend vorlas. Frau Lange forderte sie auf, mehr mit Maja zu üben, da sie im Lesen und Schreiben Probleme hatte und bat sie, sie anzurufen.
Anschließend sah Maja ihr in die Augen.
„Mama, du kannst gar nicht lesen.“
Sarina wurde heiß. Sie senkte den Blick. Gleich morgen würde sie sich zu einem Kurs anmelden. Außerdem würde sie die alte Frau Rothe bitten, mit Maja zu üben. Die Nachbarin hatte schon öfter Hilfe angeboten. Maja sollte nicht länger unter den Problemen ihrer Mutter leiden.

©Annette Paul